Das Heiligtum ist eine Wilde - Naturbeobachtungen von Herman de Vries

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Sanctuarium, zu Deutsch Heiligtum, ist ein dicht bewachsenes Stück Natur am Ende des Leibfriedschen Gartens, an dem sich zwei der am stärksten frequentierten Straßen Stuttgarts treffen. Eingekreist von einem torlosen Zaun aus etwa 170 Stahlstäben, die jeweils in eine Höhe von 2,85 m in den Himmel ragen, haben die zu Lanzen angespitzten Enden in ihrer Goldbemalung etwas von dem Pomp einer französischen Schlossanlage der Renaissance.
Was der niederländische Künstler Herman de Vries 1993 zur Internationalen Gartenausstellung in Stuttgart schuf, war damals noch ein eingezäuntes kleines Fleckchen Rasen. Über die Jahre ist daraus ein wild gewachsenes Kleinstbiotop entstanden, das – ganz im Sinne de Vries – jenseits hierarchischer Kultivierung wächst. Der ein oder andere mag bei der Verbindung aus Naturereignis und Heiligtum sicherlich an brennende Dornbüsche oder dergleichen im Sinne einer christlichen Epiphanie denken.
Davon lässt sich bei dieser Arbeit de Vries´ nicht sprechen. Allerdings bewahrt sich das Sanctuarium seine Heiligkeit im besten Sinne durch den Ausschluss des Menschen – deutlich symbolisiert und materialiter gestaltet in dem überlebensgroßen Stahlzaun ohne Eintrittsmöglichkeit. Das, was sich hinter dieser Abgrenzung tut in ihrer unbeholfenen Wildheit, reckt zwischen und oberhalb des Zaunes uns seine braunen Äste und grünen Blätter entgegen. Auf eine Weise, die uns in Erschrecken versetzen könnte, würden wir an eine botanische Form des Animismus glauben.
Seit den 1960er Jahren begann der heute 83-jährige de Vries seine zweidimensionalen Arbeiten des Informel ins Dreidimensionale, zu Arbeiten im öffentlichen Raum zu entwickeln. Als Teil der niederländischen Gruppe Nul, die der Zero-Gruppe nahe stand, gab de Vries zudem Zeitschriften heraus. In den 1990ern folgte eine Publikationsreihe, die den Titel trug integration – zeitschrift für geistbewegende pflanzen und kultur. De Vries knüpfte hier über seine Experimente mit psychedelischen Pflanzenwirkstoffen ebenso an seine bereits frühe Nähe zur Natur an. Nach seinem Besuch der Reichsgartenschule in Hoorn von 1949-51 war er zunächst als Gärtner tätig.
Für die diesjährige Biennale in Venedig hat Herman de Vries den niederländischen Pavillon samt vorgelagerter Lagune bespielt. Zu sehen sind sowohl Kunstwerke von ihm aus den vergangenen Jahren als auch Erden, Pflanzen, Algen und Seetang aus der Lagune. Betitelt mit einem von de Vries eigens erdachten Mantra aus dem Jahre 1974 to be all ways to be, überlässt er es dem Betrachter, seine Installationen in der Wahrnehmung zu erfahren. Sein geht einher mit Zeit sowie das Beobachten von de Vries Werken eine Sichtbarkeit erfährt, die über die zeitliche Dimension seiner Kunstwerke erst entsteht.
Nicht nur in diesem Punkt gibt es auch eine Nähe zu und zum ECHTWALD, in dem wir der Natur Raum geben zu entstehen. Auch wenn es mehrere Jahre dauern wird, bis wir einen vergleichbaren „Wildwuchs“ wie in de Vries´ Sanctuarium in Form eines natürlichen Biotops vorfinden werden.
So verbleiben wir derweil an dieser Stelle im Sinne Herman de Vries mit einem to be all ways to be.

Den Beitrag von Herman de Vries für den niederländischen Pavillon auf der Biennale in Venedig können Sie noch bis zum 22. November sehen.

Bis zum 8. Juni läuft im Martin-Gropius-Bau die Ausstellung Zero. Die internationale Kunstbewegung der 50er und 60er Jahre u. a. mit Werken von Herman de Vries.

Geschrieben am 02. Juni 2015